Zwei Grüne und ein Informatiker: Ein Rant.

TL;DR: In Diskussionen um unser Energiesystem wird zunehmend mit Überzeugungen argumentiert, die leider nicht auf Fakten basieren. Die Mechanik der sozialen Medien führt oft zu Vereinfachungen, die schlichtweg falsch sind — und sich gegenseitig auch noch verstärken. Schlimmer noch: Argumenationen auf der Basis von Überzeugungen bremsen notwendige Entwicklungen aus. Ich finde diesen Trend recht anstrengend, und wenig hilfreich.

Zwei Grüne und ein Informatiker gehen in eine Bar. Sie sind sich einig: Die Energiewende ist quasi erledigt. Man muss sie nur wollen, man muss nur machen.

Keine Pointe.

Mathias Dalheimer

Grün sein ist schick geworden, und ich sehe das als Wandel in die richtige Richtung. Schwierig wird es allerdings, wenn Menschen “grün aus Überzeugung” sind und ihre Überzeugung mit dem ganz realen Problem der Machbarkeit verwechseln.

Batteriereligion

Zum Beispiel werden stationäre Batteriespeicher erstaunlich häufig als Wundermittel angesehen. Sinngemäß: “Der Strom aus Photovoltaik oder Wind schwankt, und ich stelle mir einfach einen Batteriespeicher hin. Damit hab ich dann immer Strom. Wir müssen endlich die Batteriespeicher fördern, damit wir endlich diese Großkraftwerke abreißen können!” Ohne Zweifel: Gerade Lithium-Ionen-Batterien haben sich sehr gut entwickelt und werden eine große Rolle im Energiesystem der Zukunft bilden. Schlicht falsch ist aber, dass sie mehr als einen Puffer für einzelne Tage bilden können.

Dafür sind die Kapazitäten sehr viel zu klein. Das kann man recht einfach abschätzen: Der Bruttojahresstrombedarf Deutschlands liegt 2018 bei 513 Terrawattstunden, wenn man dem Umweltbundesamt traut. Nun gibt es vor allem im Winter immer mal wieder Dunkelflauten, also Wetterlagen, in denen weder Photovoltaik noch Windkraft einen nennenswerten Beitrag zur Stromproduktion liefern können. Im Schnitt tritt eine zweiwöchige Dunkelflaute alle zwei Jahre auf. Für diesen Zeitraum bräuchten wir ohne die Großkraftwerke also einen Speicher, der uns über die Durststrecke hilft. Grob abgeschätzt:

$$ 513\ TWh \cdot \frac{14}{365} = 19676\ GWh$$

Unterstellt man eine durchschnittliche Jahresproduktion von 20 GWh pro Gigafactory (Quelle), dann bräuchten wir weltweit 984 Gigafactories, um alleine die entsprechende Batteriekapazität innerhalb eines Jahres herzustellen. Wohlgemerkt: Damit kann man nur eine Dunkelflaute in Deutschland abdecken. Selbst 2030, wenn die jährliche Produktionskapazität auf 1,45 TWh angestiegen sein wird, bräuchten wir immer noch 353 Jahre, um genügend Akkukapazität für Deutschland alleine herzustellen1.

Mit anderen Worten: Lithium-Ionen-Batterien sind lediglich als kurzzeitiger Speicher interessant, und es scheitert schon an der Herstellung einer ausreichenden Anzahl von Batteriespeichern. Wir brauchen ganz andere Systeme in ganz anderen Größenordnungen, um unsere Volkswirtschaft auch in Dunkelflauten regenerativ zu versorgen. Eine ziemlich komplexe und schwierige Geschichte, bei der einfache Lösungen durchaus ein Baustein sein können — aber eben längst nicht die ganze Antwort liefern können.

Genauso wie die Kostenkalkulation von Batteriespeichern oft überaus positiv gestaltet wird, insbesondere von Verkäufern von Batteriespeichern. Es muss sich nicht alles rentieren — aber Dinge wie den höchst wahrscheinlichen Austausch des Batteriewechselrichters2 nach 10-12 Jahren komplett aus der Kostenkalkulation herauszulassen ist schlicht Quacksalberei. Oder aber die Umwandlungsverluste des Batteriesystems nicht einzuberechnen (Grob: Gut 20 % der Energie gehen verloren).

Überzeugungs-Memes

Ich nenne derartige, nunja, Falscheinschätzungen einfach mal “Überzeugungs-Memes”. Sie verbreiten sich wie Memes im Netz, und sie basieren nicht auf Fakten, sondern auf den persönlichen Überzeugungen der Verbreiter. Die Ü-Memes werden — in meiner Wahrnehmung — vor allem durch Akteure unterschiedlichster Social Media-Plattformen gefestigt. Das Problem daran: Viele “Influencer” haben eben nicht die Detailkenntnis, die es eigentlich braucht, um ein komplexes System wie z.B. das Stromnetz verstehen zu können. Ich unterstelle vielen nicht, das sie absichtlich die Welt zu stark vereinfachen. Trotzdem ist “zu einfach” leider die Regel und nicht die Ausnahme.

An influencer at work

Das festigt eben die “Überzeugungen” des Publikums, und einzelne Gedanken verbreiten sich von Influencer zu Influencer. Was wiederum die Überzeugungen des Publikums verfestigt, obwohl der ursprüngliche Gedanke vielleicht schlichtweg falsch ist. Irgendwann ist eine Überzeugung zu einem Meme geworden, das gar nicht mehr hinterfragt wird. Der Nachbar denkt über eine PV-Anlage nach? “Direkt Batterie dazukaufen”, so der reflexhafte Rat. Jedoch ohne den Wahrheitsgehalt des “Batterie-Memes” nochmal zu hinterfragen.

Das “Überproduktions”-Meme

Ein anderes Meme ist die “Überproduktion” von Strom. Dabei kann es physikalisch überhaupt keine “Überproduktion” geben. Den grundlegenden Zusammenhang hatte ich in diesem Vortrag recht ausführlich dargestellt. Die Kurzform: Erzeugung und Verbrauch müssen immer im Gleichgewicht sein. Wenn ich eine Glühbirne anschalte muss ein Kraftwerk innerhalb weniger Sekunden die notwendige Mehrleistung auch liefern. Tut es das nicht, fällt die Netzfrequenz. Die dahinter liegende Regeltechnik ist recht simpel, und in der Praxis funktioniert das Stromnetz ziemlich gut3.

Aber: Es kann eben keine Überproduktion geben. Im Gegenteil: Jede Überproduktion bringt das Stromnetz aus dem Gleichgewicht. Die Netzfrequenz steigt, und andere Kraftwerke reduzieren ihre Leistung automatisch. Unterm Strich ist also nichts gewonnen, man hat die Produktion nur von einem Kraftwerk zum nächsten verlagert. Strom kann eben nur dann sinnvoll produziert werden, wenn ein gleichzeitiger Verbrauch, mehr oder minder in der gleichen Sekunde, gegeben ist. Es hilft also nicht, blind überall Photovoltaik zu installieren; irgendwann gibt es keine Verbraucher mehr, die mit dem PV-Strom etwas anfangen können.

Was eigentlich mit der Überproduktion gemeint ist: Wir müssen Überkapazitäten bei der Stromproduktion schaffen und im gleichen Zuge den Stromverbrauch zeitlich von der Erzeugung entkoppeln. Hierbei spielen Batteriesysteme sicherlich eine sinnvolle Rolle, aber eben nur zu einem relativ kleinen Anteil. Mal angenommen, wir hätten diese Überkapazitäten von Erzeugungsanlagen und dadurch Zeiträume, in denen wir einen Überschuss von Stromproduktion haben. Dann bräuchten wir folgende Techniken auf der Verbrauchsseite, um diesen Überschuss auch sinnvoll einsetzen zu können: 4

  1. Demand side management: Es gibt Verbraucher, die wir dann betreiben können, wenn ein Überschuss vorhanden ist. Dazu zählen z.B. Ladestationen von Elektroautos oder in gewissem Ausmaß auch Wärmepumpen. Diese Technik ist nicht neu — Nachtspeicherheizungen setzen dieses Verbraucherverhalten seit den 1960er Jahren um. Es ist die effizienteste Technik, denn es treten fast keine Wandlungsverluste auf.

  2. Kurzzeitige Pufferung des Stroms z.B. in Batteriespeichern. Das wird zwar nur relativ kleine Energiemengen betreffen, aber die Umwandlungsverluste sind mit ca. 20% relativ gering. Eine andere Möglichkeit wären Pumpspeicherkraftwerke, deren Kapazität sich allerdings nur schwer erweitern lässt.

  3. Umwandlung des Überschusses in chemische Energie, z.B. durch Wasserstofferzeugung. Nachgeschaltet vielleicht auch eine Methan- oder Ammoniaksynthese, die dann die Versorgung anderer Sektoren wie der Stahlindustrie oder der Düngemittelindustrie ermöglicht.

Dahinter steht effektiv der Umbau unseres kompletten Energieversorgungssystems, und zwar nicht nur im Bereich der Elektrizität. Alle Bereiche der Wirtschaft werden sich komplett wandeln müssen, wenn wir unseren CO2-Ausstoß auf Null reduzieren wollen. Hanna und Victor bringen die enorme Größe der Aufgabe auf den Punkt5:

Despite major gains with renewables and EVs, developing new technologies remains essential for decarbonization. Eliminating at least one-third of global emissions will require technologies that are, today, prototypes — systems yet to be deployed commercially at meaningful scale.

Hanna, R., Victor, D.G.: Marking the decarbonizing revolutions. Nat Energy 6, 568–571 (2021)

Wissen statt Ü-Memes

Vielleicht verbreiten sich Memes ja gerade deshalb, weil sie viel einfacher als die Realität sind. Hilfreich sind sie deshalb aber nicht. Im Gegenteil: Überzeugungen wie “Wasserstoff ist zu teuer” verhindern, das wir wirklich neue Wege gehen und vieles ausprobieren6. Wir haben realistisch gesprochen einfach keine Ahnung, wie wir unseren Lebensstandard ohne fossile Energieträger aufrechterhalten sollen, oder auch nur wie wir die Erdbevölkerung ohne fossil hergestellte Düngemittel ernähren sollen. Wir brauchen ganz viel neue Technik, und ich feiere jeden, der einfach eine neue Technik riskiert.

How to avoid a climate disaster, Bill Gates

Es muss so um 1994 gewesen sein, als ich “Die Grenzen des Wachstums” in die Finger bekam. Immer noch ein sehr interessantes Buch, das aber leider keine größere Wirkung entfalten konnte. Eigentlich ist seit Beginn der 1970er Jahre klar, dass die Menschheit ihren Umgang mit Energie fundamental verändern muss7. Trotzdem haben wir es in den letzten 50 Jahren nicht geschafft, unser Energiesystem grundlegend zu verändern. Daher bin ich leider recht skeptisch bei der Frage, ob wir den Klimawandel auch nur etwas verlangsamen können.

Wenn wir das schaffen wollen: Es braucht Revolution statt Evolution. Es geht darum, viele neue Ideen gleichzeitig auszuprobieren, und offen für Neues zu bleiben. Und althergebrachtes, oder neues, Wissen kritisch zu hinterfragen. Dabei werden wir in die eine oder andere Sackgasse stolpern, aber wir brauchen einfach möglichst viele Ansätze, um die funktionierenden Technologien zu entdecken. Denjenigen, die sich damit beschäftigen möchten, empfehle ich zwei Quellen:

  1. Das aktuelle Buch von Bill Gates, “How to Avoid a Climate Disaster: The Solutions We Have and the Breakthroughs We Need” (Amazon Direktklick). Er schafft es, die Größenordnung der Probleme sauber zusammenzustellen. Gut lesbar und eine schöne Einführung, auch wenn man im Detail durchaus anderer Meinung sein kann. Seine Position zu Kernkraft zum Beispiel: Diese ist aus deutscher Perspektive besonders schwierig8.
  2. Wer tiefer einsteigen will: Die Studien der Arbeitsgruppe “Energiesysteme der Zukunft” sind absolut lesenswert. Sie richten sich eigentlich an Entscheider aus Politik und Wirtschaft, sind aber von Wissenschaftlern in interdisziplinären Arbeitsgruppen verfasst worden. In meinen Augen gut lesbar, aber eben fachlich fundiert.

Darüber hinaus gilt natürlich: Wann immer ein Influencer, Politiker, Kumpel oder sonst irgendwer etwas behauptet muss man auf die Quellen achten. Fehlen jegliche Quellenangaben würde ich die vertretene Meinung höchst kritisch beurteilen. Unabhängig davon, ob das Gegenüber ein Grüner oder Informatiker ist und ob man sich gerade in einer Bar befindet. ▢

Fußnoten


  1. Mir geht es bei dieser Rechnung übrigens nicht um exakte Zahlen, sondern nur um die Größenordnung. Bei drei Größenordnungen zwischen Ziel und Erreichbarem ist die genaue Zahl schlicht nicht wichtig. Wenn Sie also mit anderen Quellen auf leicht andere Werte kommen: Das ist total okay und ändert nichts an der grundsätzlichen Aussage des Artikels. ↩︎

  2. Ein Wechselrichter hat nur eine begrenzte Lebensdauer. Technisch recht ähnlich sind Photovoltaik-Wechselrichter. Bei diesen kann man von einer durchschnittlichen Lebensdauer von 10-12 Jahren ausgehen. Ich gehe also auch bei Batteriesystemen von ähnlichen Zeiträumen aus. ↩︎

  3. Etwas älter, aber eine sehr gute Darstellung der elektrotechnischen Grundlagen des Stromnetzes: Olle I. Elgerd, “Electric Energy Systems Theory — An Introduction”. McGraw-Hill, 2nd Edition 1982. Der Aspekt der Frequenzhaltung wird ab Seite 310 dargestellt. ↩︎

  4. Eine gute Quelle, die auch Kostenstrukturen und technologische Erwägungen im Hinblick auf eine Kopplung unterschiedlicher Sektoren beinhaltet, ist die Studie “Sektorkopplung – Optionen für die nächste Phase der Energiewende” der deutschen Akademie für Technikwissenschaften. ↩︎

  5. Hanna, R., Victor, D.G. Marking the decarbonization revolutions. Nat Energy 6, 568–571 (2021). ↩︎

  6. Ja, grüne Wasserstoff-Technologie ist — Stand 2021 — recht teuer. Aber er ist die Grundlage für eine chemische Speicherung von Strom, und auch für Folgeprozesse z.B. bei der Stahl- oder Zementproduktion. Über Ammoniak wird er zum flüssigen Treibstoff für Containerschiffe oder zum Grundstoff für Düngemittel. Selbst wenn der grüne Wasserstoff momentan noch vergleichsweise teuer ist: Ich begrüße jedes Projekt, das irgendwie im Zusammenhang mit Wasserstoff steht. Ich glaube zwar nicht an Wasserstoffautos; aber es scheint dort gesellschaftlich am einfachsten zu sein, neue Technik zu fördern. ↩︎

  7. Das Buch bezieht sich nur zum Teil auf den Aspekt des Klimawandels und des Energiekonsums. Trotzdem ist spätestens seit dem Erscheinen dieses Buches klar, das gerade im Bereich der Energienutzung fundamentale Änderungen notwendig sind. ↩︎

  8. Kritisieren kann man auch, das er über seine Venture Capital-Geschäfte in viele der von ihm im Buch beschriebenen, neuen Technologien investiert ist und daher nicht neutral sein kann. Andererseits: Wenn jemand ehrlich das Problem analysiert und dann in (potentielle) Problemlösungen investiert, dann gönne ich ihm auch einen kommerziellen Erfolg. Wie auch immer man dazu steht: Sein Buch gibt einen guten Überblick. ↩︎

Unterstützen

Hier gibt es keine Werbung, denn ich schätze meine Unabhängigkeit. Ich schreibe diese Texte nicht, um reich zu werden — aber ich mag Kaffee. Wenn Ihnen der Text also eine Kleinigkeit wert ist: Hier geht es zu meiner Kaffeekasse, vielen Dank!

VG Wort tracking pixel