Nachtrag 5.1.2016: In diesem Artikel komme ich zu dem Schluß, dass ein "Hackerangriff" auf ein Großkraftwerk keine Gefahr für unser Stromnetz bedeutet. Es gibt allerdings — und das ist in diesem Artikel nur am Rande beschrieben — systemische Schwachpunkte im Stromnetz, die sich ein Hacker zunutze machen könnte. Wer mehr darüber erfahren möchte dem sei mein Vortrag auf dem 32C3 empfohlen.
Foto: CC-BY Dan Nguyen
Seit dem Erscheinen von Marc Elsbergs "Blackout" taucht immer mal wieder die Frage auf, ob das dort beschriebene Szenario eine reale Gefahr darstellt. Das Buch basiert auf einer Studie des Büros für Technikfolgenabschätzung des deutschen Bundestages und beschreibt ein Horrorszenario: Die Folgen eines mehrtägigen, flächendeckenden Stromausfalls wären verheerend. Nach ein paar Tagen ohne Strom wären bürgerkriegsähnliche Zustände zu erwarten. Aber: Ist dieses Szenario wahrscheinlich? Was würde passieren, wenn wer-auch-immer ein Kernkraftwerk übernehmen würde? Im Folgenden versuche ich, anhand von Netzfrequenzmessungen und einem einfachen Modell abzuschätzen, ob dieses Szenario realistisch wäre. Meine Ausführungen lassen sich auch auf andere Szenarien übertragen: Wenn es gelänge, viele Stromverbraucher in einer Region vom Stromnetz zu trennen, wären die Ergebnisse mit dem unten betrachteten Szenario vergleichbar.
Es gibt viele Ursachen für Stromausfälle. Ohne genaue Zahlen zu kennen hat das europäische Stromnetz zumindest den Ruf, sehr zuverlässig zu sein. Die meisten Ausfälle sind regional sehr begrenzt und werden schnell behoben. Als Beispiel hierfür kann der Stromausfall am 31.05.2015 in Kaiserslautern gelten: An diesem Tag zog das Orkantief Niklas über Deutschland hinweg. Einzelne Windböen waren so stark, dass zwei Freileitungen sich berührten und durch einen Kurzschluss ausfielen. Die Versorger waren in der Lage den Strom umzuleiten und über andere Leitungen zu transportieren. In kurzer Zeit war die Versorgung wieder hergestellt.
Stromleitungen werden bei Überlast meistens über Leitungsschutzschalter automatisch vom Stromnetz abgetrennt. Da Leitungen auch für Wartungsarbeiten vom Netz genommen werden müssen stehen immer genügend Ersatzleitungen bereit, die im Notfall den Strom transportieren können. Durch (n-1)-Regel wird sichergestellt, dass beim Ausfall einer Komponente die Stromversorgung durch die restlichen (n-1) Komponenten übernommen werden kann. Die (n-1)-Regel wird sowohl für Stromleitungen als auch für Umspannwerke und Kraftwerke angewendet. Um also einen Blackout herbeizuführen müsste man nicht nur ein Betriebsmittel, sondern viele gleichzeitig außer Funktion setzen. Nehmen wir an, das würde passieren. Wieviel Leistung müsste denn abgeschaltet werden?
Es ist recht schwierig, diese Leistung genau zu bestimmen. Einerseits hängt das noch tolerierbare Leistungsdefizit von der Netztopologie ab. In einem eng vermaschten Netz wie z.B. in Deutschland gibt es mehr Möglichkeiten, Strom umzuleiten, als bei einem Strangnetz wie in den USA. Andererseits ist es recht schwierig, die Leistung abzuschätzen, da es kein mir bekanntes, frei verfügbares Modell dafür gibt.
Es kommt permanent zu Ausfällen von Kraftwerken. Was passiert zum Beispiel, wenn ein Kernkraftwerk eine Schnellabschaltung durchführt? Das ist am 25.03.2015 im Kernkraftwerk Gundremmingen passiert. Dabei wurde eine Leistung von 1290 MW innerhalb von 19 Sekunden vom Netz genommen.
Die Netzfrequenz ist ein Maß für das Gleichgewicht von Erzeugung und Verbrauch im Stromnetz. Weicht die Frequenz vom Sollwert (meist 50Hz) ab, so ist das Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch gestört. Die Hintergründe habe ich schon einmal dargestellt.
Der Frequenzverlauf der Schnellabschaltung in Gundremmingen sieht so aus:
Die blaue Linie zeigt den via netzsin.us gemessenen Frequenzverlauf. Die Frequenz des europäischen Verbundnetzes bricht um etwa 52mHz ein - das ist ein sehr niedriger Wert. Die Leistungssprünge, die regelmässig durch den Stromhandel entstehen, sind wesentlich größer. Insofern wäre also das plötzliche Abschalten eines Großkraftwerkes nicht wirklich ein großes Problem für unser Stromnetz.
Die Schnellabschaltung fand morgens innerhalb der Starklastphase des Verbundnetzes statt — die Netzlast betrug zu diesem Zeitpunkt wohl etwa 410 GW. Wenn man also unterstellt, dass die ENTSO-E die zugesagte Regelleistung von 19500 MW pro Hertz Abweichung bereitstellt, dann sehen die Leistungsgradienten so aus:
Das obere Bild zeigt wieder den Frequenzverlauf. Mittels eines Savitzki-Golay-Filters glätte ich zunächst den Frequenzverlauf, jedoch ohne die Extremwerte der Kurve zu verändern. Zusammen mit der zugesagten Regelleistung kann ich dann die Leistungsgradienten, also die Änderung der Kraftwerksleistung, ermitteln. Die untere Hälfte des Bildes zeigt, dass kurzzeitig etwa 5 GW/min. verloren gingen.
Insgesamt ist dieser Leistungsverlust jedoch nur eine kleine Delle im Frequenzverlauf. Wieviele Kraftwerke müsste man abschalten, um das Netz nachhaltig zu stören? Um dieses Leistungsdefizit abzuschätzen benutze ich im Folgenden ein sehr einfaches Modell.
Als Informationsquelle über den Zustand des europäischen Netzes habe ich — neben ein paar öffentlichen Datenquellen — lediglich Frequenzmessdaten zur Verfügung. Es geht also zunächst darum, einen Zusammenhang zwischen der Netzfrequenz und einer ausgefallenen Erzeugungsleistung (oder umgekehrt auch eines ausgefallenen Großverbrauchers) herzustellen. Als Beispiel soll zunächst der Auslegungsfall der ENTSO-E dienen: Das Stromnetz muss in der Lage sein, die Frequenzabweichung bei dem Ausfall eines Doppelblocks (3GW Erzeugungsleistung) im Schwachlastfall (Netzlast bei 150GW) auf unter 200mHz zu begrenzen. Die folgende Grafik zeigt den entsprechenden Frequenzverlauf:
Zur Stabilität der Netzfrequenz tragen kurzfristig drei Maßnahmen bei, die zusammen für eine Stabilisierung der Netzfrequenz sorgen. Die Stabilisierungsmaßnahmen sind kummulativ, d.h. die Linien obigem Diagramm bauen aufeinander auf:
Kann man mit diesem Modell den Frequenzverlauf der Schnellabschaltung des KKW Gundremmingen nachbilden? Parameterisiert man dieses einfache Modell mit dem Netzzustand zur Ausfallzeit (Netzlast 405GW, ausgefallene Kraftwerksleistung 1.3GW, sowie ein paar andere Parameter), so erhält man folgende Grafik:
Die grüne Linie gibt den gemessenen Frequenzverlauf wieder, während die schwarze Linie den theoretischen Verlauf der Frequenz bei perfekt ausgeregeltem Netz wiedergibt. Da natürlich auch andere Ereignisse den realen Frequenzverlauf beeinflussen werden die beiden Kurven fast nie direkt aufeinander liegen. Das Modell sagt aber die Höhe des Frequenzeinbruches korrekt voraus, d.h. mit den gewählten Parametern funktioniert das Modell. Verallgemeinern lässt sich das Modell derzeit noch nicht — dafür fehlen mir schlichtweg noch mehr aufgezeichnete Ereignisse wie die Schnellabschaltung in Gundremmingen. Für grundlegende Überlegungen erscheint das Modell jedoch geeignet.
Wieviel Kraftwerksleistung müsste man vom Netz nehmen, damit dieses zusammenbricht? In einem früheren Artikel hatte ich schon einmal dargestellt, ab welcher Frequenz es zu ernsthaften Störungen des Stromnetzes kommt: Unter 49 Hz kommt es zu Blackouts. Wie würde sich die Frequenz entwickeln, wenn zum ungünstigsten Zeitpunkt (Schwachlastfall: 250GW Netzlast) 10% der Kraftwerksleistung ausfallen würde? Die folgende Grafik stellt diesen Fall dar:
Kommt es zu keinen anderen Ausfällen so würde die Frequenz zwar recht stark sinken, aber das Netz würde weiterhin funktionieren. Es ist also recht unwahrscheinlich, dass Kraftwerke direkt sabotiert werden würden — diese Argumentation ist eher Panikmache. Durch den alleinigen Ausfall von 8 Doppelblöcken von Großerzeugern kann man das Netz nicht wirklich aus dem Tritt bringen. Allerdings stellt mein Modell nicht alle Effekte plausibel dar, so sind z.B. Frequenzpendelungen aufgrund von Leistungsverlagerungen nicht enthalten. Diese Frequenzpendelungen entstehen aufgrund der Größe des Netzes: Fallen in Deutschland signifikante Erzeuger aus, so wird der Strom aus dem europäischen Ausland bezogen. Diese Lastverschiebungen bergen zwei Gefahren:
Das Modell deckt nicht alle relevanten Effekte ab, insofern sind die Resultate nicht ohne weiteres zu verallgemeinern. Dennoch muss ich schlußfolgern: Der Ausfall eines einzelnen Großkraftwerks ist keine besorgniserregende Gefahr — selbst wenn mehrere Kraftwerke gleichzeitig ausfallen würden wäre das zumindest aus der Sicht der Netzfrequenz nicht weiter dramatisch. Allerdings wirken hier noch andere Effekte. Eine abschließende Beurteilung alleine aufgrund meiner bisher vorliegenden Messdaten würde der Realität nicht gerecht werden.
Ein Sabotageakt in einem oder mehreren Großkraftwerken hätte keinen großen Einfluß. Um einen Blackout zu provozieren wäre es sicherlich am einfachsten, mehrere Übertragungsleitungen innerhalb eines Netzgebietes zu sabotieren. Beim Münsterländer Schneechaos ist genau das passiert: Durch sehr starken Schneefall knickten 2005 im Münsterland viele Strommasten zusammen. In 25 Gemeinden kam es zu einem Stromausfall, der teilweise erst nach vier Tagen behoben werden konnte.
Ich würde mir wünschen, das Szenario eines "Hackerangriffs" auf ein Kernkraftwerk oder auf Smart Meter endlich als Medienspektakel abzutun. Reale Gefahr droht eher durch eine gezielte, gleichzeitige Sabotage von Übertragungsleitungen. Diese Infrastruktur ist natürlich nur schwer zu schützen, denn die ca. 35000km Höchstspannungsleitung alleine in Deutschland können nicht permanent bewacht werden. Wir sollten die Energiewende als Chance betrachten, das Stromnetz wieder zu dezentralisieren. Wenn die Stromerzeugung nahe am Verbrauch passiert sind Ausfälle besser lokal zu halten, sprich: Es kommt zu keinem großflächigen Blackout.
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